Die Lage war nach dem friedlichen Zusammenbruch der Sowjetunion in den folgenden 20 Jahren so entspannt wie nie zuvor seit dem Ende des zweiten Weltkrieges. Ein Atomkrieg zwischen den beiden Supermächten (oder richtiger: der verbliebenen Supermacht USA und dem Nachfolgestaat Russland der ehemaligen Supermacht UdSSR) war undenkbar geworden. Es folgte eine Zeit der Abrüstung und der wirtschaftlichen Zusammenarbeit, wobei letztere hauptsächlich darin bestand, dass die westlichen Wirtschaftsimperien versuchten sich ihr „Stück Kuchen“ im Goldgräberland Russland zu sichern und nicht alles den – überwiegend aus dem alten Machtapparat entwachsenen – Oligarchen zu überlassen.
Eine mögliche atomare Auseinandersetzung oder der Einsatz einzelner Atombomben zu politischen Zwecken schien lediglich durch Terroristen oder exotische „gestrige“ Diktaturen wie Nordkorea zu drohen. Einzig im Dauer-Konflikt Indien – Pakistan drohte zeitweise ein regelrechter Krieg mit dem Einsatz einer größeren Anzahl von Atomwaffen.[1]
Die anderen Möglichkeiten waren überschaubar und hätten im worst case zum Einsatz einzelner Atomwaffen geführt. Auch dies hätte extremes Leid und viele Opfer sowie katastrophale Folgen für die Weltwirtschaft bedeutet (erinnert sei an die gesamtwirtschaftlichen Folge des 9-11), wäre aber weltweit gesehen beherrschbar gewesen. Im Einzelnen waren (und sind) dabei folgende Szenarien denkbar:
1. Einsatz einzelner Atomwaffen durch Terroristen:
So hat sich Al Qaida nachweislich bemüht, in den Besitz von Atomwaffen zu gelangen.[2] Darüber, in wieweit dies zwischenzeitlich gelungen ist, kann nur spekuliert werden. Das sieht auch der US-Präsident Obama so: „Wir wissen, dass Organisationen wie Al Qaida versuchen, sich Atomwaffen zu beschaffen“, sagte er in Washington. Falls Al-Qaida-Terroristen in deren Besitz kämen, hätten sie nach Auffassung des US-Präsidenten keine Hemmungen, sie auch einzusetzen.[3] In Anbetracht der Tatsachen, dass auf „beiden“ Seiten des ehemaligen „Eisernen Vorhanges“ riesige Mengen spaltbares Material bis hin zu sog. „Kofferbomben“ (in Russland) unauffindbar „verschwunden“ sind, muss davon ausgegangen werden, dass Terrorgruppen mittlerweile oder in absehbarer Zeit im Besitz von Atomwaffen sind oder sein werden. Im Herbst 1998 hatte in Russland Jelzins Sicherheitsberater Lebed zugegeben, dass möglicherweise 40 „atomare Kofferbomben“ verschwunden – vermutlich gestohlen – sind. Allerdings würden „ohne Fachkenntnisse – beispielsweise über den Austausch des schnell zerfallenden Tritiums im Zündungsmechanismus – … diese Waffen schnell unbrauchbar.“[4] Dass das spaltbare Material der Bomben erhalten bleibt und mit der entsprechenden Technologie verwendbar wäre, wird nicht erwähnt. Insgesamt 550 Fälle von „illegalem Nuklearverkehr“nennt die IAEO seit 1993, meistens allerdings schwachradioaktive Materialien. In knapp 20 Fällen handelte es sich allerdings um hochangereichertes Material.[5] Greenpeace meldet u.a. das „Verschwinden von 30 kg Plutonium in Sellafield (Februar 2005), 19 kg Plutonium in Sellafield im Jahr zuvor, das Verschwinden von 37 Uranbrennstäben (= 50 kg Natururan), 1991 in Karlsruhe, einen Schwund von 30 kg Plutonium in Cadarache (F) 2002 …[6]
2. Einsatz durch einzelne Staaten bzw. durch deren politische Führung:
Da ist derzeit lediglich Nordkorea zu nennen, wobei hier die Gefahr nicht zu unterschätzen ist. Eine – innen- oder außenpolitisch – in die Enge getriebene nordkoreanische Regierung könnte durchaus ihren letzten Ausweg im Einsatz einer Atombombe gegen Südkorea oder Japan sehen.
Als abschreckendes Beispiel für alle aktuellen und potentiellen Atommächte muss die Entwicklung in Libyen gesehen werden. Das Szenario der libyschen Revolution wäre so nicht denkbar gewesen, hätte Gaddafi den Weg zur Atombombe, vor dem er stand, weiter beschritten und zu dem Ende gebracht. Gleiches gilt für Syrien. Nachweislich strebte Gaddafi den Besitz an, seitens des „Vaters der pakistanischen Atombombe“, Kadir Khan wurden die Baupläne auch an Libyen weitergegeben. Libyen erhielt dabei offenbar nicht nur den Plan einer „einfachen“ Bombe, sondern den einer hoch entwickelten, kompakten Waffe, die mit Raketen verschossen werden kann. Die Pläne zu wurden 2006 auf dem Computer eines schweizerischen Netzwerkes gefunden, das mit Kadir Khan zusammen arbeitet.[7] Auch über gefährliche Mengen an angereichertem Uran hatte Libyen verfügt. Im März 2004 wurden 16 kg hochangereichertes Uran an Russland abgegeben.[8]
3. Einsatz sog. „taktischer Atomwaffen“:
Im – immer noch drohenden – Angriffskrieg der USA und/oder Israels auf die iranischen Atomanlagen wurde mehrfach über den Einsatz sog. bunkerbrechende Mini-Nukes[9] spekuliert. Ein wesentlicher Teil der iranischen Anreichungsanlagen (hier laufen die Zentrifugen zur Anreicherung des Urans auf offiziell 5 bis 20 %) ist unterirdisch, tief verbunkert und kann so mit herkömmlichen Bomben oder Raketen nicht getroffen werden. Da dies aber das Kernstück der – vermuteten oder unterstellten – iranischen Produktion an waffenfähigem Material darstellt, müssen diese Anlagen vorrangig ausgeschaltet werden. Falls die Angreifer dazu Mini-Nukes einsetzen, könnte dies die iranische Regierung als einen atomaren Angriff werten und – falls bereits vorhanden – eigne Atomwaffen in einem Gegenschlag einsetzen. Hier droht dann allerdings – abgesehen von den riesigen Freisetzungen atomarer Stoff durch die Zerstörung der „zivilen“ Anlagen – eine weitere Eskalation.[10]
Noch anders sähe es bei einem Atomkrieg mit einer größeren (deutlich zweistelligen) Zahl eingesetzter Atomwaffen aus. Hier gehen mittlerweile Experten von ähnlichen klimatischen Auswirkungen[11] aus wie diese bei einem „großen“ Atomkrieg zwischen den beiden Weltmächten im „Kalten Krieg“ erwartet worden waren. Ob die Abkühlung um mehr als ein bis mehrere Grad Celsius über wenige Jahre oder Jahrzehnte dauert, wird dabei als irrelevant für die direkten Folgen für die Menschheit angesehen.
4. Krieg um die Ukraine
Der binnen weniger Wochen von der regionalen Auseinandersetzung um eine interne Regierungskrise auch durch die russische Einmischung zur Weltkrise eskalierte Konflikt um die Ukraine hat erschreckenderweise in dieser kurzen Frist durchaus das Potential zu einem möglichen Atomkrieg auf europäischen Boden entwickelt. Der Grund liegt in den extrem weit auseinander liegenden Fähigkeiten der beteiligten Streitkräfte. So wie die konventionellen Streitkräfte der Ukraine denen Russlands unterlegen sind, so sind vermutlich diese wiederum denen der NATO unterlegen, wenn sich diese zum Eingreifen veranlasst sehen sollte. Und die Reaktionen des NATO-Generalsekretärs Anders Fogh Rasmussen lassen dabei das Schlimmste befürchten: „Die aktuellen Ereignisse in der östlichen Ukraine geben nach Einschätzung Rasmussens „Anlass zu größter Besorgnis“. Der Däne forderte den Abzug der im Grenzgebiet zur Ukraine stationierten russischen Truppen. Nach Angaben der Nato-Militärs stehen dort 35.000 bis 40.000 russische Soldaten zu einem Einsatz bereit. Auf die Frage, ob die Nato im Fall eines russischen Einmarsches in der Ost-Ukraine auch zu einem militärischen Eingreifen bereit wäre, antwortete Rasmussen ausweichend. Ein solcher Einmarsch hätte „ernsthafte Konsequenzen“ und würde Russland international weiter isolieren. Der Generalsekretär forderte Russland auf, sich zurückzuhalten.“ (zitiert nach [12])
Mitten in der Ukraine-Krise hat Russland gleich drei mit Atomsprengköpfen bestückbare Interkontinentalraketen getestet. Eine Rakete vom Typ Topol-M (Nato-Code: SS-25 Sickle) sei vom Weltraumbahnhof Plessezk in Nordrussland abgeschossen worden, sagte ein Sprecher des Verteidigungsministeriums am Donnerstag der Agentur Interfax zufolge in Moskau. Zudem hätten zwei Atom-U-Boote je eine Rakete abgefeuert. Die Geschosse hätten ihre Ziele auf Truppenübungsplätzen getroffen. Es habe sich um eine geplante Übung unter Aufsicht von Präsident und Oberbefehlshaber Wladimir Putin gehandelt. Außerdem seien mehrere Marschflugkörper getestet worden.[13]
Wie eine Eskalation innerhalb weniger Tage passieren kann zeigt treffend Augstein in einem Beitrag auf Spiegel online: „Hier ein Szenario: In der Ostukraine nimmt ein Warlord eine Gruppe westlicher Beobachter gefangen. Das Schicksal der Männer bleibt ungewiss. Russland entgleitet die Kontrolle über die Geiselnehmer. Aber der Westen glaubt Putin nicht. Die Nato entscheidet sich zum Eingreifen. Die Separatisten rufen Russland zu Hilfe. Was im Kalten Krieg vermieden werden konnte, wird Wirklichkeit: Gefechte zwischen Nato-Truppen und russischen Streitkräften. In Estland revoltiert die russische Bevölkerung. Bei Auseinandersetzungen mit Sicherheitskräften kommt es zu Toten. Die Russen setzen über die Narwa. Die Regierung in Tallinn ruft den Bündnisfall aus. Ein Zurückweichen gibt es für keine Seite mehr. US-Präsident Obama und Putin haben nur noch ein Ziel: das Gesicht zu wahren. Um der technologischen Überlegenheit der Nato zu begegnen, setzen die Russen taktische Atomwaffen ein.
Wer das für abwegig hält, sollte bedenken: Der erste Teil dieses Szenarios ist bereits eingetreten.“[14]
Sonderfall „ehemalige Atommacht Ukraine“
Dabei ist bei der aktuellen Krise ein weiterer Aspekt von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Die Ukraine selbst war nach der Auflösung der UdSSR kurzzeitig Atommacht, und zwar nach Zahlen sogar die drittstärkste mit mehr Atomwaffen als China, Großbritannien und Frankreich zusammen. 1994 gab sie diesen „neuen“ Status – vermutlich u.a. wegen der Unterhaltungskosten für die Instandhaltung und Einsatzbereitschaft jedoch auf. Im Gegenzug verpflichtete sich Russland, Großbritannien und die USA 1994 im Budapester Memorandum[15], im Gegenzug für den Verzicht der Ukraine auf sowjetische Atomwaffen die Grenzen und die Souveränität der Ukraine zu garantieren.
Im Rahmen der Krimkrise 2014 wiesen die USA und Großbritannien auf das Abkommen hin und interpretierten das russische Verhalten auf der Krim als Nichteinhaltung des Memorandums und klare Verletzung der territorialen Integrität der Ukraine. Ähnlich äußerten sich der Generalsekretär der Vereinten Nationen Ban Ki-moon sowie die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel. Russland seinerseits wertete „die Drohungen von Seiten der EU und der USA während der Unruhen in Kiew, Sanktionen gegen die ukrainische Staatsführung (unter Präsident Janukowitsch) zu verhängen“ sowie die spätere „Anerkennung des Staatsstreichs in Kiew“ als Bruch der Verpflichtungen aus dem Budapester Memorandum.
UN-Generalsekretär Ban Ki Moon hatte allerdings neben Russland den Atommächten USA und Großbritannien vorgeworfen, Zusagen an die Ukraine nicht eingehalten zu haben. „Im Fall der Ukraine waren Sicherheitsgarantien eine essenzielle Bedingung für den Beitritt zum Atomwaffensperrvertrag„, sagte der UN-Generalsekretär auf dem Atomsicherheitsgipfel im niederländischen Den Haag. Abrüstungsverhandlungen zwischen den Staaten setzten Vertrauen voraus. Ban bezeichnete Russlands Militäraktion in der Ukraine auch als schwere Belastung für das Abkommen über die Nicht-Weiterverbreitung von Atomwaffen. „Die Glaubwürdigkeit der im Budapest-Memorandum gegebenen Garantien für die Ukraine ist durch die jüngsten Ereignisse ernsthaft untergraben worden„, sagte der UN-Generalsekretär. „Die Folgen sind schwerwiegend – sowohl für die regionale Sicherheit als auch für die Integrität des Regimes für die Nichtweiterverbreitung von Atomwaffen.“ Er fügte hinzu: „Dies sollte nicht als Entschuldigung für das Streben nach Atomwaffen dienen.„[16]
FAZIT
Auch unter diesen Gesichtspunkten wird die Eingangsfrage von den führenden Politikerkreisen in Ost und West mittlerweile anders gestellt:
– Ist ein Atomkrieg führbar?
– Ist ein Atomkrieg gewinnbar?
Diese beiden Fragen werden mittlerweile in den Strategiezentren in West wie Ost bis China hin erforscht und diskutiert. Die alles entscheidende Ziffer ist dabei die Menge der eingesetzten Atomwaffen.
An genau dieser Stelle der Diskussion befindet sich erschreckenderweise Europa, die NATO und Russland bezüglich der Ukrainekrise, wenn seitens westlicher Politiker[17] darüber spekuliert wird, dass die Ukrainekrise „derzeit“ (!!) keine militärische Lösung zuließe.
Es wird also wieder über „Krieg“ als Lösung von politischen Problemen nachgedacht von westlichen PolitikerInnen. Und dabei wird bewusst in Kauf genommen, dass dieser Krieg erstmalig in der Geschichte den Einsatz atomarer Waffen einschließen könnte, ja vermutlich einschließen wird! Der Maßstab ist dabei nicht menschliches Leid und Zerstörung, der Maßstab ist militärische Erfolgsaussicht und Unterschreiten der klimarelevanten Grenze der eingesetzten Menge an Atomwaffen.
Ja, ein Atomkrieg IST DENKBAR …
[1] Indien – Pakistan: Im Juli 2002 schien die Lage brisanter denn je. So forderten westliche Staaten Zehntausende ihrer Bürger auf, den Subkontinent zu verlassen. Englische und amerikanische Diplomaten und politische Emissäre der Europäischen Union belehrten in diesen Tagen pakistanische und indische Politiker mit Geheimdienststudien über die unmittelbaren Folgen eines nuklearen Schlagabtausches: Bei Einsatz aller indischen und pakistanischen Atombomben gegen die Bevölkerungszentren kämen bis zu zwölf Millionen Menschen ums Leben. (zitiert nach: https://www.stoerfall-atomkraft.de/site/?p=77)
[2] Egmont R. Koch: Atomwaffen für Al Qaida. ‘Dr. No’ und das Netzwerk des Terrors
[3] www.tagesschau.de (12. 4. 2010)
[6] https://www.greenpeace.de/themen/atomkraft/presseerklaerungen/artikel/ 30_kilo_plutonium_verschwunden/
[9] Kernwaffen mit einer Sprengkraft unter fünf Kilotonnen: https://de.wikipedia.org/wiki/Kernwaffe#Mini-Nukes
[11] Folgen für das Weltklima durch einen Atomkrieg zwischen Pakistan und Indien mit 100 eingesetzten Atomwaffen haben Forscher erstmals einen solchen Konflikt am Computer simuliert. Näheres: https://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/computer-simulation-atomkrieg-in-asien-wuerde-globale-klimakatastrophe-ausloesen-a-453835.html
[12] https://www.t-online.de/nachrichten/specials/id_68898838/nato-generalsekretaer-warnt-russland-vor-einmarsch-in-der-ost-ukraine.html
[13] https://www.greenpeace-magazin.de/tagesthemen/einzelansicht/artikel/2014/05/08/russland-testet-drei-atomar-bestueckbare-raketen/
[14] https://www.spiegel.de/politik/ausland/ukraine-jakob-augstein-ueber-einen-krieg-aus-versehen-a-966473.html
[17] Von der Leyen hatte mit Blick auf die Krim-Krise erklärt: »Jetzt ist für die Bündnispartner an den Außengrenzen wichtig, dass die Nato Präsenz zeigt.« Gabriel hatte zuvor hatte erklärt, es gebe derzeit »keine Situation«, in der die Nato mit militärischen Mitteln zeigen müsste, »dass sie zu ihrem Verteidigungsbündnis steht«. (Beides zitiert nach: https://www.neues-deutschland.de/artikel/928004.von-der-leyen-wegen-ruf-nach-nato-weiter-in-der-kritik.html